Profil der Wildwasser-Beratung und Haltung zum Thema Gewalt
Ratsuchend wenden sich meist Bezugspersonen von Betroffenen oder Missbrauchsbetroffene jeden Alters selbst an Wildwasser, weil sie Unterstützung im Umgang mit dem Thema suchen. Wir möchten deutlich machen, was sie erwartet, wenn Sie sich an unsere Beratungsstelle wenden. Dafür haben wir Rückmeldungen unserer Ratsuchenden gesammelt und versucht, unser Profil zu formulieren.
Unter den folgenden Themen erhalten Sie einen Eindruck wie und mit welcher Haltung wir ihnen in der Beratung begegnen.
Die aufgeführten Beispiele sind natürlich so verfremdet, dass keine persönlichen Geschichten wiedererkannt werden können.
Struktur von Gewalt
Gewalt hat eine Struktur?!
Das Ausüben von sexueller Gewalt ist eine Handlung, der eine Entscheidung für diese Handlung voraus geht. Wenn wir diese Sätze in unseren Beratungen oder Fortbildungen sagen, beginnen die Gedanken in den Köpfen der Klient*innen oder Teilnehmer*innen zu arbeiten. Die Mimik auf den Gesichtern reicht von erstaunt, verblüfft, interessiert bis nachdenklich, skeptisch oder ungläubig.
Häufige spontane Reaktionen sind Rückfragen wie „Ja, wirklich? Kommt das gewaltvolle Handeln nicht einfach über jemanden, so wie ein Vulkan plötzlich ausbricht?“ Wie bei einem Dampfkessel: Der Druck nimmt mit der Steigerung der Temperatur zu, bis der Kessel explodiert. Auf sexuelle Gewalt übertragen würde dies bedeuten, dass der sexuelle Trieb ohne die Möglichkeit zur Entladung zunimmt, bis er unkontrollierbar in sexuellen Übergriffen eskaliert. Dieses Modell hatte lange Zeit Gültigkeit und unterstellte Männern, dass sie ihre sexuellen Impulse nicht steuern und kontrollieren können. Über die Sexualität von Frauen wurde in dem Zusammenhang keine modellhafte Aussage getroffen, oft wurde sie implizit als eigentlich nicht vorhanden angesehen.
Gewalt erscheint auf den ersten Blick oft spontan und impulsiv. Tatsächlich bestätigt die Erfahrung von Wildwasser Gießen jedoch die Wissenschaft:
• Menschen wissen, dass sexuelle Gewalt verboten ist!
• Keiner lässt sich freiwillig erwischen!
• Der Plan muss gut genug sein, damit man nicht erwischt wird!
Für die Betroffenen und deren Unterstützungspersonen ist wichtig zu verstehen: Sie wurden mit Hilfe von Lügen, Belohnungen oder Drohungen dazu gebracht, bei einem ihnen unbekannten Plan mitzumachen, dessen Ziel der sexuelle Übergriff war. Das ist Manipulation und Betrug. Der Täter/die Täterin nutzen bestehende Machtstrukturen aus und schaffen Abhängigkeiten, um ihr Ziel ungehindert und möglichst ungestraft zu erreichen. Für die Opfer von sexueller Gewalt sind diese Informationen erleichternd und entlastend - und meist dauert es ein wenig, bis die Informationen ganz im Bewusstsein angekommen sind.
Das Erleben von sexueller Gewalt wird individuell mehr oder weniger stark ausgeprägt traumatisch im Gehirn gespeichert. Hier hat die Gehirnforschung zum Verstehen der Folgen von sexueller Gewalt im letzten Jahrzehnt hilfreiche Erkenntnisse gewonnen. Traumatische Erinnerungen unterscheiden sich von alltäglichen, normalen Erinnerungen. Wir erklären in der Beratung Kindern und Erwachsenen, wie es zu den belastenden Symptomen von Überflutung durch Bilder, rotierende Gedanken, Schlaflosigkeit, Ängsten etc. kommt und welche Hilfen es gibt.
Das Verstehen der Struktur von (sexueller) Gewalt ermöglicht es Wildwasser Gießen einzuschätzen, ob eine weitere Gefährdung besteht und was erforderlich ist, um dieser Gefährdung zu begegnen – ebenso planvoll und strukturiert wie die gar nicht chaotische und unvorhersehbare, sondern ganz rational geplante Tat selbst. Zusammen mit den Eltern schätzen wir ein, ob ihr Kind gefährdet ist, weiterhin sexuelle Gewalt zu erleben. Wir besprechen, wie sie den Schutz herstellen, welche weiteren Personen/Institutionen dafür einbezogen werden müssen und was sie von diesen erwarten können. Weiterhin besprechen wir mit den Eltern, wie sie ihr Kind fordern und fördern können, um die erlebte Gewalt zu verkraften.
Hilfe holen - „Du bist nicht alleine.“
Zu einem ersten Beratungstermin kommen die 10-jährige Jana und ihre Eltern zu uns. Jana hat sexuelle Übergriffe durch den 16-jährigen Freund ihres großen Bruders erlebt. Die Eltern haben dies bereits angezeigt. In ihrem Freundeskreis haben sie von unserer Beratungsstelle gehört und angerufen.
Zu Beginn der Beratung wollen die Kinder nicht selbst erzählen, warum sie da sind und was passiert ist, sondern wünschen sich meist, dass das die Eltern übernehmen. Für die weitere Beratung bekommen Jana und ihre Eltern jeweils eine eigene Beraterin, denn Kinder und Eltern haben ganz unterschiedliche Fragen und Bedürfnisse. Eine wichtige Botschaft für alle ist:
„Du bist nicht allein.“ Wir unterstützen alle Beteiligten, ermutigen, geben notwendige Informationen und begleiten bei einem Gerichtsprozess. Im Fall von Jana könnte natürlich auch ihr Bruder zur Beratung zu uns kommen, wenn er dies möchte.
Viele Betroffene und viele Eltern/Angehörige sagen uns, dass sie in der Familie oder im Bekanntenkreis Ausgrenzung erleben, wenn sie sexuellen Missbrauch öffentlich machen, anzeigen und/oder Konsequenzen einfordern. Betroffene selbst glauben oft, „so etwas“ passiere nur ihnen und muss folglich irgendwie an ihnen gelegen haben. Allein die Botschaft, dass „so etwas“ vielen passiert, entlastet dann oft schon von dem Gefühl der Verantwortung. Ebenso, mit jemandem darüber reden zu können. Und schließlich auch, gemeinsam mit der Beraterin zu überlegen, welche Personen und Institutionen für eine Unterstützung gewonnen werden können, und wie. So haben zum Beispiel manche Eltern die Sorge, dass andere Kinder oder Jugendliche, wenn sie eingeweiht werden, zu „tratschen“ beginnen. Für die Mädchen,Jungen, non-binären Kinder wäre es aber wichtig, dass wenigstens ihre engsten Freund*innen verstehen, warum sie auf einmal so komisch sind. Oder andersherum möchte die Mutter vielleicht alles mit ihrer besten Freundin besprechen, die der Tochter aber nicht vertraut. Und dann ist für alle Beteiligten noch die Frage, wie sich der Sportvereinsvorstand verhält, wenn z.B. ein Trainer übergriffig wurde, und wie man prüfen kann, ob der Verein jetzt sicher und solidarisch mit der Betroffenen ist. Hier für alle zufriedenstellende Entscheidungen zu treffen und zu prüfen, ob diese Entscheidungen tragen, ist ein Aushandlungsprozess, der meist der Unterstützung und auch einer Einschätzung anhand langjähriger Erfahrungen mit dem Thema bedarf.
Beratung
„Meine Tochter will nicht mitkommen, sie sagt, sie ist ja nicht irre und braucht keinen Psychiater“, berichten oft besorgte Eltern, die sich eigentlich wünschen, dass ihre offensichtlich belasteten Töchter oder Söhne eine Beratung in Anspruch nehmen. Oft lassen sich die Jugendlichen dafür gewinnen, wenn sie erfahren, dass es bei uns gar keine Psychiater gibt und man auch nicht seelisch krank sein muss, um zu kommen. Aber wenn man nicht weiß, wie man den Computer bedienen muss, fragt man doch auch jemanden, der sich damit auskennt, oder?! Und wer weiß schon, wie man mit dem Thema „sexueller Missbrauch“ umgeht.
Wildwasser Gießen arbeitet beraterisch und hat keinen therapeutischen Auftrag. Im Gegensatz zur Therapie, die einen selbstreflexiven, heilenden Schwerpunkt hat, steht in der Beratung die Lösung von Problemen im Fokus. Im Falle der Beratungsstelle Wildwasser Gießen geht es um die Umgehensweise mit sexuellem Missbrauch.
Die Manipulation des Täters/der Täterin sowie das Ausnutzen des Vertrauens von allen Beteiligten (familiäres Umfeld) und die dadurch entstehenden emotionalen Konflikte haben negative Auswirkungen auf das Beziehungssystem der Betroffenen, insbesondere in der Familie. Die Klient*innen erarbeiten sich die Erkenntnis über die Struktur der Gewalt und die eigenen Möglichkeiten, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen. Von Wildwasser Gießen werden sie dabei unter anderem mit Wissen zu verschiedenen Bereichen wie z.B. der Funktionsweise von Gewalt, Täterstrategien, Trauma (-folgen) oder dem Ablauf juristischer Verfahren unterstützt. Für eine Beratung ist es daher nie zu spät, denn in der Beratung geht es immer um das Hier und Jetzt und die schrittweise Lösung von aktuellen Problemen.
Lukas, 9 Jahre, saß still und ziemlich verschüchtert im Sessel der Beratungsstelle. Seine Mutter hatte ihn in die Beratungsstelle gebracht, weil sie pornografische Bilder auf seinem Handy gefunden hatte, die ihm ein erwachsener Mann zugesendet hatte. Der Mann hatte Lukas auch aufgefordert, ihm Nacktbilder von sich zu schicken. Lukas Mutter war nun in heller Aufregung und großer Sorge, dass Lukas dies vielleicht getan habe, aber er gab ihr auf wiederholtes Nachfragen einfach keine Antwort. Nun saß er also hier im Beratungssessel und schaute starr vor sich hin, in der Erwartung, wie von seiner Mutter nun auch von der Beraterin mit Fragen bombardiert zu werden. Wie erleichtert war er da, als die Beraterin zu ihm sagte: „Lukas, Du musst mir nichts erzählen, wenn Du nicht willst. Du musst mir auch gar nicht vertrauen. Du darfst mich erst testen.“
Wir beginnen die Beratung mit Eltern und Kind gemeinsam. Zu Beginn erklären wir unsere Schweigepflicht: Die Informationen bleiben in unserer Beratungsstelle und in der Beratung. Das bedeutet, dass die Dinge, die das Kind erzählt hat, nicht einfach an die Eltern weitergegeben werden, sondern mit dem Kind besprochen wird, welche Rückmeldung die Eltern bekommen sollen, und was sie vielleicht nur ganz allein mit ihrer Beraterin besprochen haben wollen und somit auch gegenüber den Eltern der Schweigepflicht unterliegt. Einzige Ausnahme von der Schweigepflicht sind Informationen über eine akute, gegenwärtig vorliegende Gefährdung des Kindes, bei der es immer notwendig ist, Schutz herzustellen. Darüber werden die Eltern (sofern von diesen in dem Moment nicht die Gefahr ausgeht, sodass über andere Schutzmaßnahmen nachgedacht werden muss) auch ohne Zustimmung des Kindes informiert.
In der Beratung fragen die Beraterinnen nicht nach den Details eines Missbrauchs. Wildwasser Gießen arbeitet nicht aufdeckend, sondern unterstützt die Eltern und die Kinder darin, selbst (wieder) offen miteinander sprechen zu können, oder ermutigt die Mädchen oder Jungen, der Polizei alles zu erzählen, damit sie geschützt werden können. Unser Auftrag ist es darüber hinaus, gemeinsam mit Lukas zu schauen, wie es ihm jetzt geht, was seine Fragen sind und was er braucht, um sich wieder besser zu fühlen.
Sexueller Missbrauch hat nicht nur für die betroffenen Kinder Folgen, sondern auch für ihre Eltern. Auch sie brauchen Unterstützung, ihre eigenen Gedanken und Gefühle zu klären, damit sie ihren Kindern eine gute Hilfe sein können. Fragen, die immer wieder kehren und die die Eltern am meisten quälen, drehen sich beispielsweise darum, warum sie die Übergriffe nicht bemerkt haben bzw. ob sie die Übergriffe insgesamt hätten verhindern können. Um diese eigenen Themen klären zu können, bekommen Eltern bei Wildwasser Gießen ihre eigene Beraterin. Dies gilt auch für mögliche andere Bezugspersonen, wie Geschwister, Freund*innen, Partner*innen oder Lehrer*innen, usw.
Verantwortung
Frau D., 21 Jahre, wurde in der Kindheit vom Opa sexuell missbraucht. Bisher hat sie mit keinem aus der Familie darüber gesprochen. Im Verlauf der Beratung entschied sie sich, den Eltern davon zu berichten. In diesem Gespräch offenbarten die Eltern, dass sie von einem Missbrauch an der jüngeren Schwester durch den Opa gewusst hätten, bei ihr hätten sie es immer vermutet, aber nichts Konkretes gewusst. Jedoch möchten sie jetzt, um der Oma den Schmerz zu ersparen, gerne weiterhin Kontakt zu den Großeltern haben und das Thema nicht ansprechen. In ein paar Tagen steht der 50. Geburtstag der Mutter an, zu dem die Eltern gegen den ausdrücklichen Wunsch von Frau D. auch den Opa eingeladen haben.
Das Thema Verantwortung spielt in allen Beratungen eine zentrale Rolle. Zunächst ist es wichtig, die Verantwortung für die Tat selbst und deren unmittelbaren Folgen beim Täter oder der Täterin zu verorten. Dies ist besonders wichtig, da es die Täter/ Täterinnen immer wieder schaffen, dass sich die Betroffenen mitschuldig fühlen. Täter/Täterinnen von sexueller Gewalt nutzen ein Machtverhältnis aus, um gewalttätig sein zu können. In diesem Machtgefälle sind Kinder und Jugendliche überfordert, sich selbst gegenüber dem Täter/der Täterin zu behaupten oder zu wehren. Allein schon der Schritt, jemandem von dem Missbrauch zu erzählen, ist schwierig genug. Es ist daher wichtig, dass Erwachsene Entscheidungen treffen und somit die Verantwortung für die Problemlösung und den Schutz der Kinder und Jugendlichen übernehmen.
Für Frau D. war es ein schwerer, aber wichtiger Schritt, in der Beratung zu sortieren, wer in ihrer Familie für was die Verantwortung hat. Ihr wurde bewusst, dass der Opa die Verantwortung für die Taten tragen muss. Die Eltern haben sich entschieden, den Opa einzuladen, auch auf die Gefahr hin, dass es Frau D. damit schlecht geht oder sie nicht kommen wird. Dafür haben die Eltern die Verantwortung zu tragen. Frau D. selbst muss sich nun entscheiden, ob sie an der Feier teilnehmen wird. Für diese Entscheidung, ob sie sich erneut einer sie schädigenden Situation aussetzt, trägt sie, als nun erwachsene Frau, selbst die Verantwortung. Mit der Erkenntnis, nun selbst für ihr weiteres Leben und ihren Schutz verantwortlich sein zu können, entschied sich Frau D. dagegen, an der Feier teilzunehmen. Auch wenn Frau D. über die Entscheidung der Eltern sehr enttäuscht und traurig war, hatte sie nun erstmals wieder das positive Gefühl, selbstwirksam die Kontrolle über ihr eigenes Leben zu haben.
Wertschätzung und Transparenz
Frau S., 25 Jahre, wurde in ihrer Kindheit mehrere Jahre durch den Vater sexuell missbraucht. Ihre Mutter wusste davon, hat sie aber nicht geschützt. Seit einem Jahr hat Frau S. einen festen Freund. In der Beratung sagt Frau S.: „Mein Freund sagt, ich soll zur Beratung kommen, weil unser Intimleben nicht funktioniert. Ich wünsche mir das ja selbst auch, aber manchmal habe ich Angst, dass der Missbrauch gar nicht so schlimm gewesen sein kann, wenn ich Intimität genießen kann. Andererseits fehlt mir das aber auch gar nicht so sehr wie meinem Freund, er macht mir manchmal richtigen Stress mit dem Thema“.
Auch das Leben von Menschen, die sexuellen Missbrauch erfahren mussten, kann und darf gut sein. Sie haben genau wie alle anderen Menschen das Bedürfnis nach Liebe, Geborgenheit, Sexualität (und auch manchmal keine), Zufriedenheit und Freude. Und sie sind auch mit ihren Verletzungen und „Unperfektheiten“ liebenswert und haben das Recht auf Respekt vor ihren Bedürfnissen.
Wildwasser Gießen legt den Fokus auf das Hier und Jetzt und auf Handlungsmöglichkeiten und Kompetenzen der Klient*innen, um so gut wie möglich im Alltag und auch zukünftig mit dem Missbrauch umgehen zu können. Wenn dies gelingt, so ist es ein wunderbares Zeichen von Überlebenskraft der Betroffenen, von der die Beraterinnen fest überzeugt sind und nach der sie gemeinsam mit dem*der Klient*in suchen. Und wenn manches nicht gelingt, so ist die Person dadurch nicht weniger wert – erstens sind Nicht-Betroffene ebenso wenig perfekt, und zweitens ist es ja schon eine besondere Leistung, quasi mit einem seelischen Hinkebein im Wettlauf des Lebens mitzumachen.
Wertschätzung bedeutet für Wildwasser Gießen Vertrauen in die starken Seiten der Ratsuchenden, die Suche nach ihren Fähigkeiten, und eine ehrliche, wenn nötig auch konfrontative Haltung. Wenn etwa eine betroffene Frau in ihrer Rolle als Mutter an ihre Grenzen stößt, arbeitet Wildwasser Gießen einerseits mit ihr heraus, an welchen Stellen sie, anders als sie selbst es vielleicht bisher gesehen hat, eine wunderbare Beziehung zu ihrem Kind hat, spricht aber auch deutliche Worte, wenn sie ihr Kind auf eine Art behandelt, dass es in Gefahr kommt – und macht auch deutlich, welche Konsequenzen dies hat. So ist es sicher keine Gefährdung, wenn man nicht immer Zeit und Aufmerksamkeit für das Kind hat, wenn man es zum Beispiel aber verprügelt oder etwa dem eigenen Täter anvertraut („der macht das nicht mehr…“) allerdings schon. Auf dieser Grundlage entwickelt die betroffene Frau ihre Strategie, ihre starken Seiten weiter auszubauen und ihre Schwächen entweder zu bewältigen, oder Hilfe anzunehmen.
Für die Auswahl und den Erfolg der Hilfen hat sie wiederum selbst die Verantwortung. Kann sie nicht schützen und keine Hilfe annehmen, müssen im Gefährdungsfall andere Menschen aktiv werden. Liegt keine Gefährdung vor, wird das Kind vielleicht suboptimal, aber gut genug aufwachsen. Ratsuchende haben Wildwasser Gießen oft rückgemeldet, dass gerade die überprüfbare Transparenz ihnen Sicherheit gegeben hat – Scheinfreundlichkeit hatten sie schon genug in ihrem Leben. Viele sagen, sie möchten nicht wie ein „rohes Ei“ behandelt werden, das schwäche sie mehr als sie zu stärken – andererseits kann aber natürlich auch kein Mensch, erst recht keiner, der sexuellen Missbrauch erlebt hat, ertragen, wenn sein Gegenüber ihn verurteilt oder sich nur auf seine Defizite konzentriert.
Bewertung von sexuellem Missbrauch
Lena, 10 Jahre, erlebte sexuelle Übergriffe durch den Handballtrainer. Auf Nachfrage gibt sie an, sich schlecht zu fühlen. Im Figurenspiel stellt sie den Bösewicht als übermächtig und unbesiegbar dar, der wie ein Wirbelsturm durch ihr Zimmer fegt und ein riesen Chaos macht. Nichts und niemand kann den Wirbelsturm zur Strecke bringen. Ihre Eltern meinen, sie schonen zu müssen und haben sie die letzten drei Wochen für die Schule krankschreiben lassen.
Sexueller Missbrauch ist gefährlich. Er ist keine Krankheit (weder beim Täter/bei der Täterin, noch beim Opfer), sondern eine Straftat, die Menschen körperlich und seelisch verletzt. Täter/Täterinnen nutzen Straftaten, um sich materiell oder psychisch zu bereichern. Wildwasser Gießen spricht daher über den sexuellen Missbrauch wie über andere Straftaten auch. Das erleben Betroffene oft als Orientierungshilfe: „Wenn Dich jemand bestohlen hätte, würdest du ihn auch anzeigen, und nicht denken, Du warst selber schuld, oder?!“
Lena stellt das Erlebte als einen Wirbelsturm dar, der durch ihr Zimmer gefegt ist und ein riesen Chaos hinterlassen hat. Jetzt geht es darum, mit Unterstützung der Beraterin das Zimmer aufzuräumen, zu sortieren und sturmsicher zu machen, sodass Stück für Stück der Alltag zurückkehren kann.
Für die Eltern ist wichtig zu verstehen, dass der Schulbesuch Lena die Möglichkeit gibt, sich wieder mit anderen Themen zu beschäftigen. Sie dürfen und müssen ihrem Kind etwas zutrauen – und sie nicht eindimensional als Opfer sehen. Wenn andererseits die seelische Verletzung so gravierend ist, dass gerade gar nichts geht, darf Lena auch – wie mit einem gebrochenen Bein – ohne Schuldgefühle eine Weile im “Krankenstand” bleiben. Lenas Eltern bekommen Unterstützung in der Verarbeitung eigener Gefühle und erarbeiten gemeinsam mit der Beraterin, wie sie ihre Tochter angemessen unterstützen und begleiten können – ohne zu dramatisieren, ohne zu bagatellisieren.
Spezialisierung auf Gewalt
LIEBIGneun
Zum zweiten arbeitet der Verein Wildwasser Gießen e.V. in seiner zweiten Beratungsstelle „LIEBIGneun“ auch mit sexuell übergriffigen Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen und hat damit Einblick in die Sichtweise der Täter und deren Bezugspersonen. Hier bestätigt sich das, was aus der Perspektive der Betroffenen lange bekannt ist, mal um mal. Wir haben es mit gezielt entschiedenen, geplanten Taten zu tun, subjektiv vielleicht aus seelischen Nöten heraus, aber immer in der Sicherheit einer Machtposition gegenüber dem Opfer. Andererseits sind die Täter mitnichten die Unbesiegbaren und Unberührbaren, als die die Opfer sie erleben, sondern vielleicht vollmundige, aber doch erschrockene Jungen, die vor einer Strafanzeige bibbern.
Zum Dritten erlebt Wildwasser Gießen e.V. in den Fortbildungen von pädagogischen Einrichtungen die Auseinandersetzungen, die zwischen Professionen und Institutionen zum Thema geführt werden und an welchen Stellen eine Hilfe immer wieder „hängt“.
Die Sicht auf Gewalt aus den verschiedenen Perspektiven – Kinder, Eltern, Profis, erwachsene Betroffene, Täter und deren Bezugspersonen aus der Beratungsstelle LIEBIGneun, fachlicher Diskurs – machen deutlich, dass alle Gewaltformen einander gleichen und gleichen Strukturen folgen. Das macht sie einschätzbar. Den Schatz an vielseitigen Erfahrungen zum Thema Gewalt kann die Wildwasser-Beratungsstelle den Betroffenen zur Verfügung stellen und sie auf diese Weise darin stärken, das Erlebte zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren.