Gewalt hat eine Struktur?! Das Ausüben von sexueller Gewalt ist eine Handlung, der eine Entscheidung für diese Handlung voraus geht. Wenn wir diese Sätze in unseren Beratungen oder Fortbildungen sagen, beginnen die Gedanken in den Köpfen der KlientInnen oder TeilnehmerInnen zu arbeiten. Die Mimik auf den Gesichtern reicht von erstaunt, verblüfft, interessiert bis nachdenklich, skeptisch oder ungläubig.
Häufige spontane Reaktionen sind Rückfragen wie „Ja, wirklich? Kommt das gewaltvolle Handeln nicht einfach über jemanden, so wie ein Vulkan plötzlich ausbricht?“ Wie bei einem Dampfkessel: Der Druck nimmt mit der Steigerung der Temperatur zu bis der Kessel explodiert. Auf sexuelle Gewalt übertragen würde dies bedeuten, dass der sexuelle Trieb ohne die Möglichkeit zur Entladung zunimmt, bis er unkontrollierbar in sexuellen Übergriffen eskaliert. Dieses Modell hatte lange Zeit Gültigkeit und unterstellte Männern, dass sie ihre sexuellen Impulse nicht steuern und kontrollieren können. Über die Sexualität von Frauen wurde in dem Zusammenhang keine modellhafte Aussage getroffen, oft wurde sie implizit als eigentlich nicht vorhanden angesehen.
Gewalt erscheint auf den ersten Blick oft spontan und impulsiv. Tatsächlich bestätigt die Erfahrung von Wildwasser jedoch die Forschung:
- Menschen wissen, dass sexuelle Gewalt verboten ist!
- Keiner lässt sich freiwillig erwischen!
- Der Plan muss gut genug sein, damit man nicht erwischt wird!
Für die Betroffenen und deren Unterstützungspersonen ist wichtig zu verstehen: Sie wurden mit Hilfe von Lügen, Belohnungen oder Drohungen dazu gebracht, bei einem ihnen unbekannten Plan mitzumachen, dessen Ziel der sexuelle Übergriff war. Das ist Manipulation und Betrug. Der Täter/die Täterin nutzen bestehende Machtstrukturen aus und schaffen Abhängigkeiten, um ihr Ziel ungehindert und möglichst ungestraft zu erreichen. Für die Opfer von sexueller Gewalt sind diese Informationen erleichternd und entlastend - und meist dauert es ein wenig, bis die Informationen ganz im Bewusstsein angekommen sind.
Das Erleben von sexueller Gewalt wird individuell mehr oder weniger stark ausgeprägt traumatisch im Gehirn gespeichert. Hier hat die Gehirnforschung zum Verstehen der Folgen von sexueller Gewalt im letzten Jahrzehnt hilfreiche Erkenntnisse gewonnen. Traumatische Erinnerungen unterscheiden sich von alltäglichen, normalen Erinnerungen. Wir erklären in der Beratung Kindern und Erwachsenen, wie es zu den belastenden Symptomen von Überflutung durch Bilder, rotierende Gedanken, Schlaflosigkeit, Ängsten etc. kommt und welche Hilfen es gibt.
Das Verstehen der Struktur von (sexueller) Gewalt ermöglicht es Wildwasser einzuschätzen, ob eine weitere Gefährdung besteht und was erforderlich ist, um dieser Gefährdung zu begegnen – ebenso planvoll und strukturiert wie die gar nicht chaotische und unvorhersehbare, sondern ganz rational geplante Tat selbst. Zusammen mit den Eltern schätzen wir ein, ob ihr Kind gefährdet ist, weiterhin sexuelle Gewalt zu erleben. Wir besprechen, wie sie den Schutz herstellen, welche weiteren Personen/Institutionen dafür einbezogen werden müssen und was sie von diesen erwarten können. Weiterhin besprechen wir mit den Eltern, wie sie ihr Kind fordern und fördern können, um die erlebte Gewalt zu verkraften.