Frau D., 21 Jahre, wurde in der Kindheit vom Opa sexuell missbraucht. Bisher hat sie mit keinem aus der Familie darüber gesprochen. Im Verlauf der Beratung entschied sie sich, den Eltern davon zu berichten. In diesem Gespräch offenbarten die Eltern, dass sie von einem Missbrauch an der jüngeren Schwester durch den Opa gewusst hätten, bei ihr hätten sie es immer vermutet, aber nichts Konkretes gewusst. Jedoch möchten sie jetzt, um der Oma den Schmerz zu ersparen, gerne weiterhin Kontakt zu den Großeltern haben und das Thema nicht ansprechen. In ein paar Tagen steht der 50. Geburtstag der Mutter an, zu dem die Eltern gegen den ausdrücklichen Wunsch von Frau D. auch
den Opa eingeladen haben.
Das Thema Verantwortung spielt in allen Beratungen eine zentrale Rolle. Zunächst ist es wichtig, die Verantwortung für die Tat selbst und deren unmittelbaren Folgen beim Täter oder der Täterin zu verorten. Dies ist besonders wichtig, da es die TäterInnen immer wieder schaffen, dass sich die Betroffenen mitschuldig fühlen. Täter von sexueller Gewalt nutzen ein Machtverhältnis aus, um gewalttätig sein zu können. In diesem Machtgefälle sind Kinder und Jugendliche überfordert, sich selbst gegenüber dem/der TäterIn zu behaupten oder zu wehren. Allein schon der Schritt, jemandem von dem Missbrauch zu erzählen, ist schwierig genug. Es ist daher wichtig, dass Erwachsene Entscheidungen treffen und somit die Verantwortung für die Problemlösung und den Schutz der Kinder und Jugendlichen übernehmen.
Für Frau D. war es ein schwerer, aber wichtiger Schritt, in der Beratung zu sortieren, wer in ihrer Familie für was die Verantwortung hat. Ihr wurde bewusst, dass der Opa die Verantwortung für die Taten tragen muss. Die Eltern haben sich entschieden, den Opa einzuladen, auch auf die Gefahr hin, dass es Frau D. damit schlecht geht oder sie nicht kommen wird. Dafür haben die Eltern die Verantwortung zu tragen. Frau D. selbst muss sich nun entscheiden, ob sie an der Feier teilnehmen wird. Für diese Entscheidung, ob sie sich erneut einer sie schädigenden Situation aussetzt, trägt sie, als nun erwachsene Frau, selbst die Verantwortung. Mit der Erkenntnis, nun selbst für ihr weiteres Leben und ihren Schutz verantwortlich sein zu können, entschied sich Frau D. dagegen, an der Feier teilzunehmen. Auch wenn Frau D. über die Entscheidung der Eltern sehr enttäuscht und traurig war, hatte sie nun erstmals wieder das positive Gefühl, selbstwirksam die Kontrolle über ihr eigenes Leben zu haben.