Frau S., 25 Jahre, wurde in ihrer Kindheit mehrere Jahre durch den Vater sexuell missbraucht. Ihre Mutter wusste davon, hat sie aber nicht geschützt. Seit einem Jahr hat Frau S. einen festen Freund. In der Beratung sagt Frau S.: „Mein Freund sagt, ich soll zur Beratung kommen, weil unser Intimleben nicht funktioniert. Ich wünsche mir das ja selbst auch, aber manchmal habe ich Angst, dass der Missbrauch gar nicht so schlimm gewesen sein kann, wenn ich Intimität genießen kann. Andererseits fehlt mir das aber auch gar nicht so sehr wie meinem Freund, er macht mir manchmal richtigen Stress mit dem Thema“.
Auch das Leben von Menschen, die sexuellen Missbrauch erfahren mussten, kann und darf gut sein. Sie haben genau wie alle anderen Menschen das Bedürfnis nach Liebe, Geborgenheit, Sexualität (und auch manchmal keine), Zufriedenheit und Freude. Und sie sind auch mit ihren Verletzungen und „Unperfektheiten“ liebenswert und haben das Recht auf Respekt vor ihren Bedürfnissen.
Handlungsmöglichkeiten und Kompetenzen
Wildwasser legt den Fokus auf das Hier und Jetzt und auf Handlungsmöglichkeiten und Kompetenzen der Klienten/Klientinnen, um so gut wie möglich im Alltag und auch zukünftig mit dem Missbrauch umgehen zu können. Wenn dies gelingt, so ist es ein wunderbares Zeichen von Überlebenskraft der Betroffenen, von der die Beraterinnen fest überzeugt sind und nach der sie gemeinsam mit der Klientin suchen. Und wenn manches nicht gelingt, so ist die Person dadurch nicht weniger wert – erstens sind Nicht-Betroffene ebenso wenig perfekt, und zweitens ist es ja schon eine besondere Leistung, quasi mit einem seelischen Hinkebein im Wettlauf des Lebens mitzumachen.
Wertschätzung bedeutet für Wildwasser Vertrauen in die starken Seiten der Ratsuchenden, die Suche nach ihren Fähigkeiten, und eine ehrliche, wenn nötig auch konfrontative Haltung. Wenn etwa eine betroffene Frau in ihrer Rolle als Mutter an ihre Grenzen stößt, arbeitet Wildwasser einerseits mit ihr heraus, an welchen Stellen sie, anders als sie selbst es vielleicht bisher gesehen hat, eine wunderbare Beziehung zu ihrem Kind hat, spricht aber auch deutliche Worte, wenn sie ihr Kind auf eine Art behandelt, dass es in Gefahr kommt – und macht auch deutlich, welche Konsequenzen dies hat. So ist es sicher keine Gefährdung, wenn man nicht immer Zeit und Aufmerksamkeit für das Kind hat, wenn man es zum Beispiel aber verprügelt oder etwa dem eigenen Täter anvertraut („der macht das nicht mehr…“) allerdings schon. Auf dieser Grundlage entwickelt die betroffene Frau ihre Strategie, ihre starken Seiten weiter auszubauen und ihre Schwächen entweder zu bewältigen, oder Hilfe anzunehmen.
Für die Auswahl und den Erfolg der Hilfen hat sie wiederum selbst die Verantwortung. Kann sie nicht schützen und keine Hilfe annehmen, müssen im Gefährdungsfall andere Menschen aktiv werden. Liegt keine Gefährdung vor, wird das Kind vielleicht suboptimal, aber gut genug aufwachsen. Ratsuchende haben Wildwasser oft rückgemeldet, dass gerade die über-prüfbare Transparenz ihnen Sicherheit gegeben hat – Scheinfreundlichkeit hatten sie schon genug in ihrem Leben. Viele sagen, sie möchten nicht wie ein „rohes Ei“ behandelt werden, das schwäche sie mehr als sie
zu stärken – andererseits kann aber natürlich auch kein Mensch, erst recht keiner, der sexuellen Missbrauch erlebt hat, ertragen, wenn sein Gegenüber ihn verurteilt oder sich nur auf seine Defizite konzentriert.